Die Familienanekdote

In kleinbürgerlichen Familien besorgt die Mutter am Sonnabend vormittag den Hausputz, währenddessen beschäftigt der Vater das Kind vermöge eines Spaziergangs. Hacks’ Vater bevorzugte als Ziel den Scheitniger Park, der sich an dem Hacks’ Wohnung entgegengesetzten Ende der Stadt Breslau befand.

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Der Mann ist mir anstrengend vollkommen vorgekommen. Zu wissen schien er alles. Und zu können, selbst wenn das nicht logisch klingt, noch mehr.
Hermann Kant, Schriftsteller

Neuinszeniert: »Jona« von Peter Hacks mit Sabine Böhm, Michael Hase, Vera Kreyer, Para Kiala und Maria Strauss (v.l.n.r.) in der Aufführung am 13. November (Quelle: PHG/Schmidtke)Es war das letzte, von ihm selbst so bezeichnete Drama von Peter Hacks – »Jona« entstand 1986, erschien 1988 und erlebte erst 2009 in Wuppertal seine Uraufführung. Nun ist es in einer Neuinszenierung wieder zu sehen: Regisseur Jens Mehrle bringt es mit Theater Provinz Kosmos auf mehrere Bühnen in Sachsen-Anhalt.

 

Berlin, 20.11.2022.

Von Burkhard Schmidtke

Den Stoff entlehnte Hacks einer biblischen Geschichte: Schauplatz der Handlung ist Ninive am Tigris, im 9. Jahrhundert. Doch die Bezüge zu Ort und Zeit der Entstehung des Stückes sind deutlich. Es benennt Personen, Staaten, Ereignisse im frühmittelalterlichen Mesopotamien, aber es meint die DDR der späten Honecker-Ära – eine DDR, deren Handeln auf die Bewahrung des Status quo ausgerichtet ist und die sich von den eigentlichen Zielen verabschiedet hat, möglich sogar, entfernt; eine DDR, die nur bleiben, sich aber nicht mehr entwickeln will. »Bleiben, ist das nicht viel?« – »Viel, wenn man es erreicht. Aber wenn man keinen höheren Vorsatz in seinem Streben hat als bloß den, ist es ein anderes Wort für Tod«, heißt es im Stück.

Doch obwohl sich Hacks' Stück auf die ihrem Ende entgegen gehende DDR bezieht, ist es auch oder vielleicht sogar gerade im Hier und Heute gültig, meint Regisseur Jens Mehrle: »Es handelt von einer Stadt, die ziemliche innen- und außenpolitische Probleme hat, von einem Staat. Und der wird besucht von Jona, dem biblischen Jona, der mit einem Walfisch kommt und diese Stadt prüft, ob sie praktisch noch Existenzberechtigung hat. Und da erlebt er allerhand Sachen, wo der Autor selber sagt: Hier wird so viel gelogen, dass es eigentlich unanständig ist«, sagt der Theatermacher im Gespräch mit dem Dessauer Fernsehen »ran1« und weiter: »Und wir fanden, dass das sehr brisant ist und mit unserer Zeit zu tun hat. Und da haben wir in so einer alten – das Stück ist nicht alt – aber in so einer alten Geschichte einen direkten Bezug.«

Ninive ist ein Ort des Niedergangs und der der Verrottung, es herrschen Intrigen und Verrat. Auf dem Thron herrscht Semiramis, Königin von Assur, die einst ihren Mann, König Schamsch, ermordete und nun versucht, durch ein Ränkespiel zwischen Freund und Feind dem eigenen Niedergang zu entgehen, letzten Endes nicht Staatsvernunft betreibt noch Staatskunst, sondern allein »Staatsschlaubergerei«. »Man muß auf jeder von den Seiten stehn, der des Gewinners und der des Verlierers«, lässt Hacks' sie sagen und: »Wer den Ausgang plant zum Anbeginn, der ist kein Herrscher, sondern ist ein Narr.«

Wider Willen von einem Walfisch angelandet, erscheint – ursprünglich von Gott gesandt – Jona, der Prophet, um zu beobachten, was ist und zu entscheiden, was wird – für Ninive eine letzte Möglichkeit, durch Buße dem eigenen Untergang zu entgehen. Doch Semiramis will keinen Fortschritt, ihr Handeln hat kein höheres, hat überhaupt kein Ziel, als zu bleiben – bleiben um des Bleibens willen. Und so steht Jonas Urteil bald fest: »Diese Stadt Ninive will nichts, nur bleiben; vergehe sie denn!« – »Weg mit Ninive, da ist nichts an ihr, das Gott beabsichtigt haben könnte.« Und so macht Jona sich auf, Ninive zu verwerfen. Denn »was dem Staat den Grund entzieht, ist Staatsschlaubergerei: dies selbstverliebte Lügen, dies alles dulden und so alles kränken, dies immer eins tun und das andre auch und keines folglich ganz, dies nicht den ärmsten Gewinn ausschlagen und am Ende jeden verpassen: So entsteht der Ekel und der Niedergang.«

Am Ende kommt dann alles ein bisschen anders, aber dem soll nicht vorgegriffen werden, denn ein Theaterbesuch bei TheaterProvinzKosmos, die das Stück an verschiedenen Orten im Raum Dessau - Bitterfeld-Wolfen - Wittenberg bringen, ist sehr zu empfehlen. Mehrles Inszenierung des Stückes ist nach der Uraufführung erst die zweite überhaupt. Sie lebt von der Bühnenpräsenz ihrer Darsteller einerseits, allen voran Vera Kreyer als Semiramis und Para Kiala als Jona, und einem Minimum an Ausstattung andererseits. Allen Schnick-Schnack, auf den kleine Theatertruppen mit begrenztem Budget verfallen könnten, lässt die Regie konsequent und wohltuend weg. Dafür stehen Wort und Spiel im Mittelpunkt, Hacks' Sprache ist ein Genuss und die Inszenierung transportiert sie eingängig in allen Ebenen. Einziger Wermutstropfen, zumindest für Berliner Theaterfreunde, sind je nach Spielort und Verbindung ein bis zwei Stunden Fahrzeit von der Hauptstadt aus – Zeit, die aber gut investiert ist, denn der Besuch einer dieser wenigen Aufführungen lohnt sich sehr.

 

Die nächsten Vorstellungen:

19.11., 19 Uhr, Phönix Theaterwelt Wittenberg
20.11., 16 Uhr, Phönix Theaterwelt Wittenberg
25.11., 19 Uhr, Kornhaus Dessau
26.11., 19 Uhr, Kornhaus Dessau
27.11., 16 Uhr, Kornhaus Dessau
30.11., 19 Uhr, Altes Theater/Studio, Dessau
9.12., 19 Uhr Campus Hörsaal Bitterfeld-Wolfen

Weitere Informationen und Karten unter theaterprovinzkosmos.jimdofree.com/jona