Ende September 1979 hatte Friedo Solters „Wallenstein“-Inszenierung am Deutschen Theater Premiere. Darin spielte Eberhard Esche die Titelrolle. In der Inszenierungsphase hatte Esche seinen Freund Peter Hacks um einige Hinweise bezüglich Stück und Rolle gebeten.

 

Die Premiere fand im Rahmen der XXIII. Berliner Festtage des Theaters und der Musik am 30. September 1979 statt. Die Rolle des Wallenstein war Esche 1978 angeboten worden. Der zögerte jedoch zunächst und bat Peter Hacks um Rat mit dem ihn nicht nur eine langjährige, enge Freundschaft sondern auch eine intensive Arbeitsbeziehung verband.

Hacks schrieb Esche am 25.12.1978:

 

Das erneute Studium des »Wallenstein«, zu dem Du, bester Eberhard, mich genötigt hast, hat mein Wissen von zwei Vorurteilen gereinigt: dem, daß das »Lager«– sofern man es vom Gesichtswinkel des durch es spazierenden Paares Octavio-Questenberg her erzählt und ihm so dramaturgische Funktion und Spannung gibt – aufführbar sei, und dem, daß die Trilogie an drei oder zumindest zwei Abenden gespielt werden müsse. Ich habe das Bedürfnis, meine neuen Einsichten in diesen Punkten zu begründen, und plage Dich also eingangs mit einigen allgemeinen Nachrichten, welche Deine Rolle keineswegs betreffen. Ich bitte Dich um Geduld; ich komme, das erledigt, zu Dir.

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Zum »Lager« also. Die Idee, man müsse, wenn man die Generale hat, unbedingt auch noch die Soldaten kommen lassen, ist so blöde, daß sie von Brecht sein könnte, wenn sie nicht eben von Schiller wäre. Das ist reines 19. Jahrhundert, reine Dekadenz; man ahnt das neue geschichtliche Gewicht der Massen, weiß nicht, was künstlerisch mit ihnen anfangen, bewimmelt die Schaubühne und läßt aufs Peinlichste den Weltgeist aus Volkes Mund reden. Sprachlich ist das eine reine Nachäfferei der »Jahrmarkt«-Knittel*, nur daß eben Schiller, der alles konnte und in dem nichts sang, zu derlei freien Versen überhaupt keine Veranlagung hatte; das ist unsinnlich und humorlos, Reimprosa, ledern wie die Stiefel, von denen das Stück handelt. Für die Exposition der Fabel ist das »Lager« vollkommen nutzlos. Alles, was in ihm steht, steht in der ersten »Piccolomini«-Szene auch, und besser.

Auf das »Lager« darf das Theater keine Zeit verschwenden.

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Blieben demnach noch zwei Teile. Aber die Stücke, die Schiller da anbietet, sind von seltsamem Aufbau. »Piccolomini« beginnt mit der Setzung eines großen Widerspruchs, der sich, immer umständlicher, steigert und im fünften Akt zu keinerlei Auflösung kommt, ja, nicht einmal zu einem Höhepunkt, es sei denn, man wolle Max für die Hauptperson nehmen. Umgekehrt der »Tod« wieder: er beginnt mit dem Höhepunkt, hat nach III keine Möglichkeit zur Pause und läppert sich in Retardements zum tödlichen Ausgang herunter. Man ist geneigt zu glauben, man habe zwei schlechte Stücke vor sich, Stücke von der ungeschicktesten Dramaturgie. In Wahrheit aber liegt alles anders.

»Wallenstein« ist ein großartig organisiertes Drama: ein klassischer Fünfakter, der dem Autor nur – durch noch ungenügenden Sinn für Timing, grundsätzlich breite Schreibart (denn die Fabel knapp wegerzählen und auf den Szenen ausruhn wie Shakespeare, das kann er nicht) und ein übermäßiges Bedürfnis, historische Realität einzubringen – aufgequollen ist. Das Drama »Wallenstein« wurde Schiller zu lang, und er hat es in zwei Dramen gehälftet, offenbar, indem er das Manuskriptbündel in zwei gleiche Haufen teilte und dieselben mit Überschriften versah.– »Wallenstein« muß eingestrichen und an einem Abend aufgeführt werden.

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Wie alle guten Stücke beginnt »Wallenstein«, nachdem alles Entscheidende bereits getan ist. Nicht epische Enwicklung ziert ein Stück, sondern dramatische Abwicklung. Die wirkliche Akt­einteilung ist folgende:

Erster Akt (»Piccolomini« I und II): Exposition. – Wallenstein, welcher den Staatsstreich vorbereitet, hat zwei Gegenspieler: verborgener und spannender Weise Octavio, offener und theatralischer Weise Questenberg. Er besiegt Questenberg durch den Nasser-Trick, die Rücktrittsdrohung zum Zweck der Hervorrufung von Volksjubel.

Zweiter Akt (»Piccolomini« III bis V): Steigerung. – Wallenstein gewinnt Max mit dem Thekla-Trick und die Generale mit dem Klausel-Trick. Das Gegenspiel unterminiert beide Tricks im Geheimen, nagt am Interesse der Generale und sägt an Maxens Gewissen.

Dritter Akt (»Tod« I): Höhepunkt. – Großer Entscheidungsvorgang des Helden. Wallenstein entschließt sich zu dem, wozu er sich von Anfang an entschlossen, er vollzieht den Pakt mit dem Feind. – Pause.

Vierter Akt (»Tod« II und III): Niedergang und Retardements. – Beide Parteien handeln, Octavio besser als Wallenstein. Der schon erledigte Wallenstein scheitert bei einer dreifachen Suite kleiner Rettungsversuche.

Fünfter Akt (»Tod« IV und V): Katastrophe. – Durch eine große und aussichtsreiche Rettungsanstrengung führt der Held die Notwendigkeit seines Untergangs herbei. Daß die Notwendigkeit sich nach dem Tod als eine nur scheinbare herausstellt, ist eine Pointe, die gegen den Zustand der Welt spricht und dem negativen Helden noch ein wenig Entschuldigung und Sympathie einbringt.

Das ist glänzend gemacht und kann nicht übertroffen werden.

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So viel vom Stück, nun zum Helden. Wallenstein besteht aus einem Grundwiderspruch. Einerseits ist er ein Genie: als Feldherr unersetzlich, als Staatsmann groß, als Mensch überzeugend, als Person zu handeln fähig. Andererseits besitzt er keinen eigenen Weltentwurf. Er will nur, was der Kaiser auch will, selbst und besser machen. Er wie Österreich reden vom Frieden und von Deutschland nur aus Propagandagründen; was beide anstreben, ist: der moderne, absolutistisch regierte Staat. Der ganze Gegensatz reduziert sich auf die Frage, wer die Welt zu bewegen geeigneter sei, auf die Frage: Genie oder Bureaukratie?

Die Formel der Rolle lautet: Wallenstein ist das Genie ohne Inhalt.

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Daher fehlt Wallenstein die Überzeugung zu sich, die er hätte, wenn er ein Revolutionär wäre. Er ist keiner. Was er vorhat, ist wirklich bloß Verrat, nicht Revolution.

Daher die Kälte seiner Politik, die Kniffe, Verstellungen, Intrigen, welche die fehlende eigentliche Kraft, die Überzeugungskraft eines hohen Zieles, ersetzen müssen. Wallenstein ist kein Politiker, sondern ein Politikus. In der Fabel stürzt er mehrmals durch übergroße Schläue (über Max, über Butler).

Daher sein schlechtes Gewissen und Hamletisches Zaudern. Seine angeborene Entschlußfreude kann er stets nur bei taktischen Gelegenheiten einsetzen. Das fehlende historische Recht verurteilt ihn zu Initiativlosigkeit, über welche er sich hinwegmogelt, indem er sich mit Leuten umgibt, die ihn vorwärtsdrängen, und indem er sich Tatsachen beugt, die er selbst auf den Weg gebracht hat. (Der astrologische Beweggrund gibt in diesem Zusammenhang nichts Neues her. Der Schiller wollte da die Griechen kopieren, scheute sich aber in diesem politischsten aller Stücke vernünftigerweise, ein Wunderbares einzuführen. So bestätigen die Sterne immer nur, was Wallenstein auch ohne sie bewegen würde, sein Zögern, seinen Entschluß loszuschlagen, seine Angst. Sie leiten seine Taten nur insofern, als da eben nichts anderes ist, das sie leitet.)

Aus dem schlechten Gewissen rührt das gute Gewissen, das er sich einzureden genötigt ist. Wallenstein leidet unter zwanghaftem Größenwahn. Er ist monomanisch, überheblich, eitel. Dieser Heuchler ist stets empfindlich gekränkt, wenn er seine Gegner beim Heucheln erwischt; dieser Verräter verurteilt Verrat bei anderen mit tiefster sittlicher Entschiedenheit. Die andere Ursache seines Sturzes, das Vertrauen in Octavio, folgt aus der Selbstvergöttlichung, die seine Seele mangels genauerer Rechtfertigungsgründe produzieren muß.

Grund seines Handelns ist bloß sein Charakter, seine Gegnerschaft zum Kaiser bloß psychologisch bedingt. So haben alle Kompromißbemühungen (der Herzogin, Maxens) nicht mehr Chancen, als sie bei Bier- und Havemann hatten.

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Wallenstein befindet sich im Zustande einer notwendigen Selbsttäuschung: er darf nicht wissen wollen, was er tut. Er glaubt – in gewissem Sinne ernstlich – er sei kein Verräter, obgleich er von Beginn her unmißverständlich als ein solcher handelt. Er hat den Putsch begonnen, behauptet aber, man zwänge ihn zum Putsch. Der Verratene soll an dem Verrat schuld sein. Solchen Gewissensschutzes bedürfen, wenn auch in kleinerem Maße, ja sogar wirkliche Revolutionäre. Galilei hielt sich lange für einen gehorsamen Sohn der Kirche, die Puritaner und Jakobiner wähnten lange, sie seien keine Königsmörder. Auflehnung gegen das Bestehende in seiner erhabenen Würde des funktionierenden Vorhandenseins ist moralisch undurchführbar, außer man verheimlicht vor sich selbst das Ausmaß der Folgen und Weiterungen. So fühlt sich jede Revolution zunächst als Reformation; so fühlt sich der Verrat zunächst als besonders unentbehrliche Hilfeleistung.

Die Formel des Stücks lautet: 1 Verräterseele plus 1 Armee = 1 Verrat. Der berühmteste Fall ist Trotzki.

Der Verräter macht (aus Hochmut und Hang zur Alleingängerei) die eigene Sache zum Hauptfeind. Er verbündet sich gegen die eigene Sache mit dem eigenen Feind (wie Trotzki mit den Nazis, Mao mit den Amerikanern oder Biermann mit der SPD). Er meint, er könne seinen widerwärtigen neuen Verbündeten gebrauchen und dann immer noch zurück. Er will mit dem eigenen Feind spielen, der in Wahrheit mit ihm spielt. – »Wallenstein« zeigt mit ungeheurer Genauigkeit die Anatomie des Verrats.

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Schiller verstand sich auf die Sache, weil er sich seiner Chaoten-Zeit schämte. Der Sturm-und-Drang war, wie die Frühromantik, eine Studentenunruhe. Schiller hatte gelernt, daß derlei Possen keine andere Auswirkung haben, als, die Gegenrevolution zu aktivieren. Wallenstein wird in Sturm-und-Drang-Kategorien beschrieben: er ist allvermessen, hat alles sich zu danken, hat sein Orakel im Innern, ist ein Riesengeist, der nur sich gehorcht. Die Verurteilung Wallensteins durch Schiller ist Schillers Zurücknahme des Sturm-und-Drangs. (Bekanntlich weigerte sich Schiller, seine Jugendstücke in Weimar aufführen zu lassen, obgleich Goethe ihn dauernd dazu ermunterte).

Zum Anarchismus gehört Überschätzung des Ich und Unterschätzung der realen Gesellschaft. Für Wallenstein ist das Kaiserreich nichts Gediegeneres als Pfaffenherrschaft, Bureaukratie, institutionalisierte Unfähigkeit: das ewig Gestrige. Er muß den Gegner klein machen, da er ihm nur seine kleine Unzufriedenheit entgegenzusetzen hat. Schiller faßte den Plan zum »Wallenstein« zur Zeit des Todes von Karl Eugen, dem er nun voll Bewunderung und Reue nachtrauerte. Ihm fiel beispielsweise ein, daß dieser Mann die zwei besten Hochschulen Deutschlands unterhielt, Hochschulen, aus denen, außer ihm selbst, Leute wie Hegel, Hölderlin und Schelling hervorgegangen waren.

»Einst war mir dieser Karl Eugen so huldreich.
Er liebte mich, er hielt mich wert, ich stand
Der Nächste seinem Herzen«. (»Tod«, I-7)**

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Schiller kennt also inzwischen die Welt, wie sie tatsächlich ist, und hat von der Möglichkeit des Genies, in ihr zu wirken, eine sehr viel bescheidenere Meinung, als er hatte. Seither kann er Bedeutendes wirken. Dem Wallenstein indessen fehlt die Einsicht in die Notwendigkeit. Sein Überindividualismus ist in totale Abhängigkeit und Fremdgeleitetheit umgeschlagen; der Alleinhandelnde hat nichts mehr zu handeln. Aus Gründen beginnt das Stück mit dem Gegenspiel und tritt der Held im Anfang kaum auf. Die Umstände leiten alles ein, keine Initiative im ganzen Drama geht von Wallenstein aus. Als bloß existenzieller Verräter wird er höchst lustlos, stets nur getriebenermaßen, zum tätigen Verräter.

Das macht die Rolle zu spielen schwierig. Man sieht dauernd den Versager Wallenstein; das Genie Wallenstein wird zwar lautstark behauptet, erweist sich aber handelnd nur auf kleiner – privater oder taktischer – Ebene. Daher kommt alles auf den Charme und die Souveränität des Schauspielers an. An ihm ist, zu zeigen, daß der kaputte Rest, der da vom ersten bis zum letzten Satz, stets über seine Seele stolpernd, die schiefe Ebene der Fabel hinabeilt, der Rest eines von der Natur hochherzig gemeinten und nur durch eine falsche Programmierung mißleiteten Menschen ist. Der Darsteller von Wallensteins hassenswertem Tun sei, damit der Widerspruch nicht verloren gehe, liebenswürdig.

Das, bester Eberhard, ist der Grund, aus welchem Du es bist, der das spielen muß. Alles andere wird Dir wenig neu gewesen sein, aber den Punkt wollte ich bewiesen.

Herzlichst, Peter

25.12.1978

 

 

* gemeint ist Goethes 1773 entstandener Schwank »Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern«
** Hacks hat das Zitat im Sinne seiner Interpretation der Figurenkonstellation kommentarlos verändert und »Karl Eugen« statt »Ferdinand« geschrieben.