Über die Bedeutung und Vermittlung von Literatur als kulturelles Erbe am Beispiel Peter Hacks’ Jona

von Sebastian Kaep

 

»Wir schicken jedes Jahr – und scheuen dabei weder Leben
noch Geld – ein Schiff nach Afrika, um Antwort auf die
Fragen zu finden: Wer seid ihr? Wie lauten eure Gesetze?
Welche Sprache sprecht ihr? Sie aber schicken nie ein Schiff
zu uns.«
Herodot

 

Im Rahmen des Projekts »Vererbt, vergöttert, vergessen?« wird sich der folgende Beitrag mit der Bedeutung von Peter Hacks’ Bühnenstück Jona als kulturelles Erbe auseinandersetzen. Dabei richtet sich der Fokus hier jedoch weniger auf gegenwärtige Transformations- bzw. Deutungsmöglichkeiten des eigentlichen Stücks als vielmehr auf die ursprüngliche, alttestamentliche Erzählung, die dem Dichter als Grundlage diente. Was dieser mit jenem Text gemein hat, wo ihre Verschiedenheit liegt, warum sich gerade dieses Stück als kulturelles Erbe anbietet und was das überhaupt bedeutet, will nun kurz erläutert werden.

Peter Hacks‘ Jona als kulturelles Erbe

Aufführung Simonetti Haus, Coswig, 3. Akt, Eskar, Jona /15Gehen wir davon aus, dass es sich beim Erben um ein Prinzip des Aufhebens und der Weitergabe handelt, so ist damit für gewöhnlich ein eher schlichter Prozess gemeint: Ein Wert X wird aufgehoben bis ans Lebensende und anschließend weitergeben, wird aufgehoben, weitergegeben und so fort. In diesem Fall konzentrieren sich das Erbe und die Erbschaft auf einen sehr punktuellen Moment, in dem Besitz von der einen in eine andere Hand wandert. Von dem Jahr seiner Übersiedlung 1955 aus der BRD in die DDR bis zu deren Ende 1990, schrieb Peter Hacks ganze siebenundzwanzig Dramen. Das fünfteilige Trauerspiel Jona aus dem Jahr 1986 sollte das letzte in der DDR verfasste Bühnenstück von ihm sein. Fragte nun jemand nach Zählbarem, wäre es also denkbar auf diese Arbeiten und einige mehr zu verweisen, sie zusammenzutragen, und diesen Wert als »Hacksens Erbe« zu beziffern. Dass es beim kulturellen Erbe jedoch nicht hinreicht, allein im Aufheben und Weitergeben materieller – und unter uns gesprochen also äußerst profaner – Güter verhaftet zu bleiben, ist leicht erklärt. Vergleichen wir allein die szenische Darstellung Hacks’ Jona mit dessen Text und beide anschließend mit dem Jonabuch der Bibel, lassen sich zunächst drei verschiedene Formen einer gemeinsamen textlichen Grundlage feststellen. Indem sich der Text je nach Interpret in seiner Gestalt verändert, müssen wir das kulturelle Erbe auch und besonders als etwas Prozesshaftes begreifen, dessen äußere Umstände nicht selten mit darüber entscheiden, ob und was vererbt, vergöttert oder vergessen wird. Insofern bleibt es notwendige Bedingung, nicht bloß nach dessen Messgröße, sondern daneben nach Ursprung, historischem und sozialem Raum, damals, heute und währenddessen kritisch zu fragen, um den ganzen, das heißt wahren Wert sinnvoll beurteilen zu können.

Hacks bedient sich an biblischem Stoff,

aber »[...], ein Dramatiker, der einen König schreibt, schreibt seinen eigenen König«

Um Fragen nach dem Hintergrund der Jona-Erzählung im Konkreten und biblischer Erzählung im Allgemeinen zu beantworten, hat die Bibelwissenschaft ihre eigene Methode entwickelt – die sogenannte historisch-kritische Exegese.

Der Begriff weist bereits auf das Ziel dieser Methode hin: Sie will den geschichtlichen Hintergrund der biblischen Texte erfassen, und diesen im Vergleich zu späteren Auslegungen kritisch unterscheiden. Dabei geht es nicht um eine Wertung der Texte, sondern vielmehr darum, den Text in seiner ursprünglichen Form zu erfassen und dessen Entwicklung im Laufe seiner Fortschreibung nachzuskizzieren. Dass es sich bei Hacks’ Stück nicht um eine Neuauflage des Jonabuchs, also ein einfaches Remake handelt kann, liegt in der Sache selbst, denn [...], »ein Dramatiker, der einen König schreibt, schreibt seinen eigenen König.« (zitiert nach Hacks-Werke Bd. 15, S. 305). Daher wollen wir nun, um die Unterschiedenheit der beiden Erzählungen gegenüberstellen zu können, den Blick auf den Ursprungstext richten. Dazu ein kurzer inhaltlicher Abriss:

  1. Im ersten Kapitel erhält Jona, Sohn des Amittai (יוֹנָ֥ה בֶן־אֲמִתַּ֖י) von Jahwe, also Gott, den undankbaren Auftrag, nach Ninive zu gehen, um den Bewohnern nach ihren Verfehlungen Gottes Strafe anzukündigen. Jona, vom göttlichen Plan nur wenig begeistert, beschließt kurzum vor dem Auftrag zu flüchten. Dafür macht er sich zunächst auf den Weg zur Hafenstadt Jafo, dem heutigen Jaffa, um von dort mit einem Schiff weiter nach Tarschisch zu reisen. Tarschisch (hebräisch תַרְשִׁיש Taršīš) ist der biblische Name für die antike Hafenstadt Tartessos (altgriechisch Ταρτησσός), die an der atlantischen Südküste Spaniens lag.
    Weil Tarschisch im östlichen Mittelmeerraum der Antike als der am weitesten im Westen gelegene Ort galt, also dem sprichwörtlichen Ende der Welt sehr nahekam, erscheint Jonas Vorhaben zunächst als sinnvoll und sinnlos erst, wenn man von einem allmächtigen Gott ausgeht, dessen Einflussbereich unbegrenzt ist. Wie in der Bibel zu erwarten, bemerkt Gott die Flucht des Propheten und lässt einen großen Sturm über dem Meer aufkommen, der das Schiff zu zerbrechen droht. Schnell wird Jona von den Seeleuten als Ursache des Unheils identifiziert und auf dessen eigenen Vorschlag hin werfen ihn die Seeleute – wenn auch nach einigem Zögern – über Bord. Das Opfer zeigt Wirkung: Der Sturm endet und das Meer beruhigt sich.
  2. Im zweiten Kapitel sendet Jahwe einen großen Fisch, der Jona verschlingt. Nach drei Tagen im Inneren des Fisches betet Jona einen Dankpsalm, woraufhin Jahwe dem Fisch befiehlt Jona an Land wieder auszuspucken.
  3. Das dritte Kapitel beginnt mit einer Wiederholung des ersten Kapitels, d.h. mit Gottes Auftrag bzw. wörtlich »Und das Wort des Herrn geschah an Jona […]« (דְבַר־יְהוָ֛ה אֶל־יוֹנָ֖ה וַיְהִ֧י). Hierbei handelt es sich um eine klassische, alttestamentliche Wortereignisformel. So simpel sie in ihrer Konstruktion für den geübten Althebraisten ist, so sehr rückt diese einfache Formel die Autorität des Sprechers in den Vordergrund. In der möglicherweise etwas fremdartig anmutenden Formulierung »des Wortes, das an jemandem geschah«, wird die Eigenmächtigkeit des Gotteswortes selbst zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich damit zumindest formal um eine prophetische Botschaft. Doch zurück zum Inhalt: Jona gehorcht dieses Mal und macht sich auf den Weg nach Ninive. Die Stadt selbst schien allerdings für damalige Verhältnisse absurd groß, sodass es zu Fuß allein drei Tage gedauert hätte, sie zu durchqueren. Drei Tage im Fisch, drei Tage Fußmarsch. Zahlen haben in der Bibel immer eine bestimmte, jedoch unterschiedlich wichtige Bedeutung. Die Zahl drei – denken wir an Jesus, der nach drei Tagen wieder aufersteht, die Dreieinigkeit Gottes, der dreiteilige aaronitische Segen – steht sinngemäß häufig für etwas, das beendet, vervollkommnet und/oder vollendet wird und mit machtvollen Gottestaten in Verbindung steht. Obwohl Jona dem Auftrag Gottes dieses Mal folgt, scheint er nach wie vor nicht sonderlich motiviert. Denn statt der zur vollständigen Begehung Ninives notwendigen drei, predigt Jona nur einen Tag lang, doch die ihn hören, tun Buße, woraufhin Gott Gnade walten lässt.
  4. Letztes Kapitel: Jona ist wütend, dass Gott das sündige Volk so schnell davonkommen lässt. Sauer und enttäuscht, denn nachdem er schimpft, dass er schon mit der Gnade Gottes gerechnet hatte, bittet er diesen darum sein Leben auszulöschen: Jona will lieber sterben als so weiterzuleben. Er verlässt die Stadt und baut sich außerhalb der Mauern eine kleine Hütte. Über diese lässt Gott einen schattenspendenden Rizinus wachsen, was Jona erfreut. Während der Nacht lässt Gott den Rizinus dann wieder verdorren, und als Jona am nächsten Tag in der sengenden Hitze sitzt, sich erneut den Tod wünscht, fragt ihn Gott – und damit endet das Jonabuch: Wie kann Jona den Rizinus nur bedauern, zu dessen Werden er nicht beigetragen hat, der in einer Nacht ward und in der nächsten Nacht verdarb, und gleichzeitig Gott vorwerfen, Ninive zu bedauern, die doch ungleich größer und Teil seines Werkes ist.

Jona ... und was hat das mit Hacks zu tun?

Formal ist das Buch in zwei Hälften gegliedert, die sich grob wie folgt aufteilen: Jona und Menschen (Seeleute) und Jona und Gott (im Bauch des Fisches), Jona und Menschen (Bewohner Ninives) und Jona und Gott (unter dem Rizinus). Trotz der assyererzeitlichen Szenerie ist davon auszugehen, dass das Jonabuch in seiner so kunstvoll gestalteten Konstruktion erst in der Ptolemäerzeit (3. Jh. v. Chr.) entstanden ist (vgl. Gertz, Grundinformationen Altes Testament, S. 393.). Neben der Verwendung verschiedener Vokabeln (an dieser Stelle sei auf das Fachsprachengeplänkel verzichtet), die ansonsten erst in späterer, d. i. in nachbiblischer Literatur vorkommen, sind es vor allem diverse Querverweise (Jer 18,7f. in Jon 3; Ex 34,6 in Jon 4,2; 1Kön 19,4 in Jon 4,3)*, die auf eine nachexilische Entstehung verweisen. So ist es gerade das zentrale Thema der Reue Gottes, das als eine deutliche Referenz sowohl auf das Jeremiabuch (vor Unheil warnender Prophet charakteristisch für ein Deuterojeremianisches Prophetenbild) als auch auf Joel zu verstehen. Letzteres wird teilweise sogar wortwörtlich zitiert (Joel 2,13b in Jon 4,2b; Joel 2,14a in Jon 3,9b). Neben all diesen inneralttestamentlichen Hinweisen spricht auch das Motiv des gerade in frühhellenistischer Zeit (300 v. Chr.) kursierenden Verschlingungsmythos durch Seeungeheuer – man erinnere sich nur der Herakles-Hesione- bzw. der Perseus-Andromeda-Sage – für eine spätere Datierung. 

Jona? Was ist das?

Aufführung Phönix Theaterwelt Wittenberg, 3. Akt, Eskar, Asyrte, Semiramis, Jona (Foto: Ulrike Marski) /23Die Frage klingt banal – unbegründet ist sie nicht. Das Jonabuch innerhalb des Zwölfprophetenbuchs (sog. zwölf »kleine« Propheten im Gegensatz zu den drei »großen« Propheten) stellt insofern eine Besonderheit dar, als dass es statt der Verkündigung des Propheten Jona eine Prophetenerzählung enthält. Das heißt, anstatt der zu erwartenden prophetischen Reden erzählt uns das Buch von Taten und Erlebnissen eines Propheten in einem fremden Land. Indem es mit einer offenen Frage Gottes endet und den Leser mit dieser zurücklässt, verweist das Buch deutlich auf seine didaktische Intention und wird daher von nicht wenigen als »didaktische Novelle« bezeichnet (vgl. Gerhards, Jonabuch, S.71.)

Bis hierhin:

Was hat das alles mit Hacks zu tun? Bislang recht wenig wie wir sehen. Wie man Jona auch deuten oder zuordnen mag, ob als Prophetenschrift (Argument dafür wäre erwähnte Wortereignisformel), ob als didaktisches Novelle (wegen der offene Frage am Ende), ob als Midrasch (hebräisch מִדְרָשׁ midrāš, durch die Aufnahme des Textes in die rabbinische Tradition ebenfalls denkbar): ein historischer Bericht, d.h. eine Darstellung historischer Ereignisse ist es nicht – und ein Drama noch weniger.

Es deutet sich jedoch eine Gemeinsamkeit des Bibeltextes und Hacks' Drama an. So scheint ein zeitlicher Abstand des Verfassers zu den geschilderten Ereignissen zu bestehen, und zwar in dem Maß, dass er weder seinen Protagonisten Jona kennengelernt noch die geschilderten zeitlichen Umstände selbst erlebt haben dürfte. Wenn es sich nicht um die Darstellung historischer Ereignisse handelt und wenn Jona also nicht der Verfasser des Jonabuchs ist, stellten sich bei der Lektüre des Jonabuchs der Bibel und Hacks‘ Jona ähnliche Fragen: Von welchem Jona ist die Rede? Mit welchen Eigenarten wird die Figur versehen? Von welchem Ninive hat der Verfasser geschrieben und welche Entwicklungen prägen seine jeweiligen literarischen Motive? Dieser Spur wollen wir nachgehen.

Who is who ist wo?

Richten wir unseren Blick auf Hacks’ Jona und wieder zum Jonabuch der Bibel und wieder auf Hacks und wieder zur Bibel – so sehr wir unseren Blick auch pendeln lassen, es werden nicht mehr Gemeinsamkeiten: nur Jona, Ninive und der Fisch.

Jona: Jona ben Amittai

Protagonist des Jonabuchs ist Jona, Sohn des Amittai. Außer dieser denkbar kurzen genealogischen Andeutung erhält der Leser keine weiteren biografischen Hintergründe. Dass es sich beim Verfasser des Jonabuchs nicht um Jona selbst handelt, wird an mehreren Stellen sichtbar. Neben den bereits genannten, können zum einen die Erzählperspektive (3. Person), zum anderen die durchgängig eher negative Darstellung des Protagonisten als Belege der Nicht-Identität herangezogen werden. Der Prophet selbst, Jona, Sohn des Amittai, kommt nur noch ein weiteres Mal in der Bibel vor, und zwar im 2Kön 14,25. Dort soll er dem König Jerobeam II. (788-747 v. Chr.) den Sieg über die Assyrer und die Rückeroberung des Ostjordanlandes vom Steppenmeer, dem heutigen Toten Meer, bis nach Lebo-Hamat (etwa 200km nördlich von Damaskus) prophezeit haben. Merkwürdig, denn im Buch verwendet der Verfasser den Begriff »König von Ninive«, doch zu dieser Zeit gab es keinen »König von Ninive«. Der Herrscher von Assyrien wurde »König von Assyrien« genannt, sodass anzunehmen ist, dass der Verfasser lange Zeit nach dem Untergang des assyrischen Reichs gelebt haben muss, da ihm dies sonst bekannt gewesen wäre.

Ninive:

Im 7. Jh. v. Chr. war Ninive (hebräisch נִינְוֵה) Hauptstadt des assyrischen Großreichs. Die am Ostufer des Tigris gelegene Stadt (im heutigen Mossul/Irak) stand als assyrische Residenzstadt und also verfeindet mit Israel und Juda in der Bibel sinnbildlich für alles Feindliche, Böse und Negative (Jes 37,37; Nah 1,1; Nah 2,9; Zef 2,13). Außerdem bezeugen Ausgrabungen, dass es sich bei der Beschreibung der Stadt im Jonabuch um eine extreme Übertreibung handelt. So betrug der Durchmesser der Stadt höchsten 1,5 km. Drei Tage hätte man selbst mit gemächlichstem Schritt nicht gebraucht, sie zu durchschreiten. So ist es durchaus möglich, dass Ninive selbst gar nicht gemeint war, sondern eher im übertragenen Sinn für eine große Stadt oder eine Region steht. Der Ausdruck eine »große Stadt« findet sich beispielsweise auch in Gen 10,11-12 wieder und meint dort ein aus mehreren Städten bestehendes Gebiet. Doch warum ist Gott gnädig, wenn Ninive den Erzfeind Israels und Judas symbolisiert? Dazu hilft es zu wissen, dass Ninive 612 v. Chr. erobert und zerstört wurde und somit von der Stadt zur Zeit des mutmaßlichen Verfassers keinerlei Gefahr mehr ausgehen konnte. So ist auch dies wieder sinnbildlich zu verstehen, nämlich dass Gott auch über verfeindete Städte Gnade walten ließ, diese Gnade gleichzeitig aber auch Grenzen kannte, insofern als dass die Stadt letztlich doch zerstört wurde.

Kulturelles Erbe als dialektische Aufhebung

Wie wir sehen, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen dem biblischen Jonabuch und Hacks‘ Jona. Doch ist das entscheidend? Entscheidend ist, dass beide – sowohl Hacks als ebenso der Verfasser des Jonabuchs – auf eine Person verweisen, die sie beide nicht kannten, in deren zeitlicher Nähe sie nicht mal ansatzweise lebten. Beide bedienten sich somit gewisser Motive, die sie mit ihren jeweiligen Lebenswirklichkeiten füllten, um ihre eigentliche Botschaft zu übermitteln. Der Grund, warum wir heute noch das Jonabuch lesen können, liegt nicht allein daran, dass es aufgeschrieben wurde, sondern eben auch daran, dass Israel damals gegen Assur siegte, der Jonaverfasser die Geschichte für geeignet hielt, sich das Judentum und später das Christentum in dieser Region durchsetzte, kurzum: an sich etablierenden kolonialen Machtverhältnissen, die eher für als gegen die Aufbewahrung des Textes sprachen. Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, so heißt es, und warum sollte es sich in der Literatur damit anders verhalten.

Aufführung Simonetti Haus, Coswig, 5. Akt, Asyrte, Eskar, Jona, Belit, Semiramis /17 Kommen wir also erneut zurück auf die eingangs erwähnte Prozesshaftigkeit des kulturellen Erbes und schauen uns an, was in der Zwischenzeit alles geschah: Jona, Sohn des Amittai prophezeit Jerobeam II. irgendwann um 800 v. Chr. seinen Sieg gegen Assur. Vierhundert Jahre später – Assur ist schwach und Ninive längst zerstört – bedient sich ein unbekannter Verfasser am Prophetenbild des Jona, um gläubigen Bewohnern Israels zu zeigen, dass Gottes Gnade universell gilt, d.h. auch den Feinden zugesprochen wird. Der Verfasser findet diese Erzählung also, er hebt sie auf, formt sie um, passt sie an. Hacks findet ein paar Jahrtausende später ebenfalls diese Geschichte, die jetzt aber keine bloß einmalige Erwähnung, sondern bereits Novelle ist und im biblischen Kanon steht, formt sie um, passt sie seiner Wirklichkeit an und macht ein Drama aus ihr. Wir, in unserer Zeit, finden ebenfalls dieses Stück, inszenieren, spielen neu, interpretieren um, paraphrasieren jeder, jeweils Verschiedenes unterschiedlich. Hegel schrieb in seiner spekulativen Logik von der dialektischen Aufhebung, die immer im dreifachen Sinn zu verstehen sei. So kann die Veränderung der Form, die Transformation vom Text zum Schauspiel, die neubelegte Szenerie und Figurenkonstellation als Aufhebung des Alten verstanden werden, als Verdrängung des vorherigen Zustands gewissermaßen. Gleichzeitig steckt darin aber auch eine Form der Aufbewahrung, insofern markante Elemente – wenn auch abgewandelt – übernommen werden und somit erhalten bleiben. Im dritten lässt sich aufheben, was herunterfiel, von Laub bedecktes entlaubt in die Höhe heben, ins Blickfeld rücken.

Ob die Erzählung des Jonabuchs eine andere gewesen wäre, wäre Ninive nicht untergegangen? Diese Frage ist ebenso spekulativ, wie die Frage, ob Peter Hacks eine andere Reputation erfahren hätte, wäre das Ende der DDR wie in Hacks‘ Jona 1986 vorhergesagt, nicht erfolgt. Doch nun, da es keine Mauer (jedenfalls außerhalb der Köpfe) mehr gibt, aus zwei Staaten ein Staat wurde, bleibt es notwendige Bedingung, kulturelles Erbe nicht bloß innerhalb kolonialer Machtverhältnisse und Siegergeschichten zu messen, sondern erneut und beständig nach Ursprung, historischem und sozialem Raum, damals, heute und währenddessen kritisch zu fragen, um letztlich dessen ganzen – nun wiedervereinten –, das heißt wahren Wert sinnvoll beurteilen zu können.

 

 

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