von Kai Köhler

 

»Jona« ist das letzte Drama, das Hacks vor dem Ende der DDR schrieb. Dabei hätte es nicht an Zeit gemangelt, denn bereits 1986 lag das Stück vor. Vielmehr folgte eine fünfjährige Pause, nämlich bis »Fafner, die Bisam-Maus« von 1991. Es handelt sich um die längste stücklose Zeit in Hacks’ Werkgeschichte.

Dabei war er in dieser Phase durchaus produktiv. Sein Arbeitsschwerpunkt lag indessen auf der Essayistik. Was er zu sagen hatte, wollte er unmittelbar und unmissverständlich mitteilen; oder er glaubte, dies wollen zu müssen. Seine neueren Dramen waren in der DDR entweder nicht gespielt worden oder nicht über ein oder zwei Inszenierungen hinausgekommen. Der Weg über die Bühne schien verschlossen. Diese Schwierigkeit blieb auch »Jona« nicht erspart. Vor 1989 blieb es bei einem Abdruck in »Sinn und Form«, unter problematischen Umständen, auf die ich noch kommen werde. Die szenische Uraufführung fand unter der Leitung von Marc Pommerening erst 2009 in Wuppertal statt, mit Schauspiel-Absolventen der Folkwang-Hochschule Essen. Jens Mehrles Inszenierung ist erst die zweite des Dramas.

Hinsichtlich einer Ost-West-Konstellation steht also das Stück zum einen für ein noch kaum eingelöstes Erbe der DDR; es zeigt den sozialistischen Staat im Niedergang. Die bisher schmale Bühnenrezeption verweist auf ein politisches Interesse. Über die Interpretation des Werks hinaus, die hier skizziert werden soll, wäre zu fragen, in welcher Weise die beiden Inszenierungen auch für ein Unterfangen stehen, eine Bühnentradition zu erben und weiterzuführen. Beide Regisseure kamen ohne explizite Aktualisierungen und ohne Textmontagen aus. Sie vertrauten auf ein Publikum, das Geschehen auf der Bühne mit eigenen Fragestellungen zu verknüpfen.

Zum Text: Zunächst skizziere ich die politische Konstellation. Die Handlung spielt in Ninive, der Hauptstadt von Assur. Assur ist offiziell verbündet mit dem zivilisatorisch noch fortgeschritteneren (Peter Hacks: Jona. Trauerspiel in fünf Akten. In: Werke. 6. Band: Dramen IV. Berlin 2003, 403-487, hier 417) und mächtigen Babel. Auf der anderen Seite droht das feindliche Ararat. Ararat gehört zum einen in eine geschichtliche Epoche, die in Babel bereits überwunden ist, die Rede ist vom »wilden Nachbarreich« (407). Zugleich hat es mit Assur kulturelle Eigenheiten wie die Sprache gemein.

Diese Konstellation zu entschlüsseln, erfordert ein nur geringes Maß an Phantasie. Assur steht für die DDR, die sich an die Sowjetunion gleich Babel anlehnt. Das barbarische Ararat entspricht in dieser Logik der BRD. Dass ein Dramatiker stets an seinen König denkt, sagt Hacks in »Ödipus Königsmörder«, dem Essay über Voltaires Dramen von 1991, der fast wie eine Autobiographie wirkt. Königin von Assur ist in »Jona« Semiramis. Als Prinzssin von Babel, hatte sie in dessen Auftrag Schamsch, damals König von Assur, geheiratet und umgebracht. Schamsch hatte sich keineswegs gegen Babel gewendet, doch im Bündnis eine eigene Politik entwickelt, die auf einen militärischen Sieg über Ararat abzielte. Babel freilich hielt sich damals für zu schwach, um einen Konflikt durchzustehen, und war an Koexistenz interessiert.

Stand hinter dem Mord also eine politisch nachvollziehbare Strategie, so lässt sich das von Semiramis Herrschaftspraxis nicht sagen. Sie selbst verkündet stolz: »Assur quillt über von Verschwörungen / Gegen den Thron. Für Ararat, für Babel, / Oder einfach so. Und keine unter denen / An deren Spitze ich nicht leitend wirke. / Man muss auf jeder von den Seiten stehen, / Der des Gewinners und der des Verlierers […].« Entsprechend intrigant führt sie auch ihre Außenpolitik, die nur aus einer Reihe von Täuschungsmanövern und heimlichen Bündniswechseln besteht.

Das Zitat, das ich eben abgebrochen habe, geht so weiter: »Denn das Vorauszusehende ist das / Was hinterher mit Sicherheit nicht eintritt, / Und wer den Ausgang plant von Anbeginn. / Der ist kein Herrscher, sondern ein Narr.« (419) Mit einer solchen Position verkommt Politik notwendig zu einer Abfolge rein taktischer Maßnahmen, die keinem strategischen Ziel dienen. Genau dies ist die »Staats- / Schlaubergerei«, die Jona sehr viel später anklagt, nicht ohne das positive Gegenbild zu benennen: »Denn wahrlich, auf / Zwei Herrschaftsweisen ist der Staat gegründet, / Auf Staatsvernunft, die das Vorhandne regelt, / Und Staatskunst, die ins Mögliche sich dehnt«. (477)

Dass Semiramis für Honecker steht, kann als nachgewiesen gelten. Das geht so weit, dass man in Briefwechsel zwischen Hacks und André Müller an vielen Stellen, wo es um Honecker geht, »Semiramis« liest (Vgl. Hacks / Müller: Der Briefwechsel, etwa 368, 369, 371,374, 430, 439, 443). Dies muss nicht der Grund dafür sein, dass »Jona« in der DDR nicht inszeniert wurde. Das vorangegangene Staatsdrama, »Fredegunde«, war dort ebenfalls nicht zu sehen und wurde nur in der BRD aufgeführt. Freilich war der Honecker-Bezug möglicherweise der Grund für die Publikation in der Akademie-Zeitschrift »Sinn und Form« Ende 1988 (Sinn und Form 40 (1988), Heft 6, 1144-1207).Seit der Entstehung des Dramas hatten sich die politischen Fronten umgekehrt. 1985/86 hatte Hacks, bei allen schon damals in Briefen an André Müller formulierten Bedenken, Hoffnungen auf Gorbatschows Reformen gesetzt. Die SED-Führung erschien ihm dagegen als politisch prinzipienlos. 1988 hingegen zeichnete sich bereits ab, dass die Linie der KPdSU auf eine Kapitulation hinauslief. Folgerichtig stand Hacks hinter der Weigerung der SED, derartigen »Reformen« zu folgen. Umgekehrt musste das Lob Babels in »Jona« für die Gorbatschowisten in der DDR attraktiv wirken.

Freilich handelt es sich um mehr als ein Zeitstück in mythologischer Verkleidung. Hacks hat sich immer wieder mit historischen und antiken Stoffen befasst und so das Erbe jedenfalls des europäischen und vorderasiatischen Teils der Menschheit befasst. Obschon explizit kein Christ, griff er auch das biblische Erbe auf; in dem Begleitessay zu dem Drama »Adam und Eva« (1972) skizzierte er eine materialistische Interpretation des Sündenfalls.

Themen, Konstellationen und Stoffe, die auf eine solche Weise geerbt werden können, müssen verallgemeinerbar sein. Auf »Jona« trifft das zu. Semiramis meint nicht nur Honecker, sondern trifft einen politischen Typus: den des stets aktiven Zauderers, der sich in seinen taktischen Winkelzügen verliert und sich dabei noch für schlau hält. Auch das positive Gegenbild, das Jona im Drama formuliert, nämlich die Verknüpfung von Staatsvernunft und Staatskunst, wäre immer noch als Rat für Vertreter ganz unterschiedlicher Positionen nutzbar, Taktik und Strategie zu verbinden. Erst dass Ararat und Babel für unterschiedliche Zivilisationsstufen stehen, schreibt den sozialistischen Inhalt des Dramas fest. Viel weiter sind wir damit allerdings noch nicht. Manche Werke Hacks‘ geben konkrete Hinweise auf politische Methoden fortschrittlicher Staatskunst. »Jona« hingegen zeigt ausschließlich, wie wir es nicht machen sollen.

Nun lässt sich aber fragen, ob die bisher vorausgesetzte zentrale Position der Semiramis überhaupt die Sache trifft. Die Titelfigur bleibt in den bisher vorliegenden, wenigen Interpretationen ebenso am Rande wie das Liebespaar Eskar – Asyrte, das mit einer Stichomythie das Geschehen auf der Bühne einleitet. Immerhin aber heißt das Stück »Jona«.

Liegt im Titel ein Lösungsansatz? Zunächst jedenfalls habe ich mir ein weiteres Problem eingehandelt. »Jona« ist das einzige Drama, das Hacks als »Trauerspiel« bezeichnet hat. Es ist vor allem die Liebeshandlung, die diese Genreangabe rechtfertigt. Die ersten Minuten exponieren die Zuneigung, die Eskar und Asyrte füreinander empfinden. Zugleich wird das Konfliktpotential deutlich. Die Prinzessin Asyrte erwartet von dem Feldherrn Eskar den vollen Einsatz für ihre Liebe, auch um den Preis einer Konfrontation mit der Königin, also mit dem Staat, den Semiramis repräsentiert. Eskar hingegen ist regierungstreu. Als Asyrte ihm rät, Semiramis zu zwingen, hält er ihr entgegen: »Der Untertan den Staat! Jetzt rasen Sie.« (HW VI, 405) Diesem Grundsatz wird er treu bleiben. Gegen die eigene bessere Erkenntnis und für den Erhalt der Staatsordnung folgt er noch den übelsten, staatsschädlichsten Befehlen der Semiramis.

Durch intrigante Anweisungen erreicht sie es, dass Eskar in Asyrtes Augen zunächst als untreu in der Liebe und dann sogar, schlimmer noch, als Verräter am Staat dasteht. Wenn auch die Verwicklungen zuletzt aufgeklärt werden, so macht dies das Geschehene doch nicht ungeschehen. Bis zum Ende gibt es keinen Hinweis darauf, dass Eskar und Asyrte mehr als nur eine äußerliche Verständigung gelingt.

Ein Trauerspiel ist dies nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auf der des damit bezeichneten Allgemeinen. Das lässt sich mittels der Handlung unmittelbar politisch fassen. Eskar und Asyrte standen für die Zukunftsperspektive Assurs; zuletzt aber zaubert Semiramis anstelle der derangierten Liebenden den, wie es heißt »Tölpel« Gotthelf als Nachfolger hervor. Vor allem aber geht im Verlauf des Dramas das Vertrauen verloren, und damit die Voraussetzung eines produktiven Miteinanders.

So wäre also die Bezeichnung als Trauerspiel gerechtfertigt. Warum aber habe ich vorhin gesagt, dass ich mir mit der Ausweitung des Blicks über die politische Entschlüsselung der Semiramis hinaus ein weiteres Problem eingehandelt habe? Weil es immer noch Jona gibt, immerhin die Titelfigur des Dramas.

Mit Jonas Auftritt – er entsteigt bibelgerecht einem Fisch – wechselt die Dramensprache vom Vers in Prosa. Der Ton ist nun ein anderer: plaudernd, nicht ohne Sarkasmen. Jonas erste Sätze lauten: »Meinen schuldigsten Dank, Herr, für die Errettung aus so gewaltigem Dunkel. Ihre Güte ist sehr groß, denn Sie selbst haben mich hineingestoßen, und ich weiß, wieviel Überwindung es kostet, eine Maßnahme, die man einmal getroffen hat, wieder zurückzunehmen. Herr, ich rühme, ich lobe; freilich, es wäre übertrieben gelobt, wollte ich andeuten, ich befände mich hernach viel besser.« (410).

Das ist so respektlos gegenüber Gott wie die Anrede mit »Sie«, die auf Gleichwertigkeit statt auf Unterwerfung unter die väterliche Autorität zielt. Sogleich wechseln auch Semiramis und Eskar, die gerade anwesend sind, in diesen Ton. Semiramis hat Vorurteile, was Propheten angeht; Jona beruhigt sie: Weder sei er schmutzig, noch springe er anfallsweise in die Luft, noch wiederhole er seine Vorschläge fünfzig Mal. (412f.)

Derlei Konversationen tragen zum Fortgang der Handlung nichts bei, sind hingegen Bestandteil der Wirkstrategie. Nichts Neues ist, dass Hacks, besonders an Dramenenden, mit emotionalen Kontrasten operiert. Der gute König René unterschreibt am Schluss von »Margarete in Aix« den erwünschten Vertrag mit Frankreich, und als Unterlage dient jener Kasten, in dem – wie er später erst erfahren wird – die Leiche seiner ihm feindlichen und von ihm doch geliebten Tochter Margarete liegt. Der politische Erfolg in »Numa« geht mit privatem Unglück einher. Numa konstatiert: »Im übrigen, der Staat ist in den Fugen / Und auf den Fugen sitzt ein Weib und weint.« (Peter Hacks: Numa. Komödie in fünf Aufzügen. In: Werke. 4. Band: Dramen II. Berlin 2003, S. 305-371, hier S. 368)

Und so könnte der Fall auch hier liegen. Das Private und das Politische sind dramaturgisch miteinander verknüpft, doch gehen sie nicht ineinander auf. Der inhaltliche Unterschied ist offenkundig: In »Margarete in Aix« und »Numa« deutet Hacks individuelle Kosten des gesellschaftlichen Fortschritts an. In »Jona« hingegen dienen Jonas Scherze dem Zweck, mit einem Mangel an Hoffnung umzugehen. Sie stehen für eine Haltung; diese Haltung freilich ist mehrdeutig.

Jona tritt zunächst dem Königshof von Assur mit einer Lüge entgegen. Seine Absicht sei es, zu beobachten. Tatsächlich hat Gott ihn mit dem Auftrag losgeschickt, auf Grundlage dieser Beobachtungen ein Urteil zu fällen und gegebenenfalls die Stadt zu vernichten. Jona hatte sich zunächst geweigert: »Das fragte ich Gott, weshalb ich? Schicken Sie einen anderen, sagte ich, mir liegt das Verurteilen nicht, mir liegen Einsicht, Verständnis, Entschuldigen mit Umständen.« (473) Doch zwang ihn Gott, die Aufgabe zu übernehmen.

Wir haben also eine Figur, die zur Trägheit neigt; dies erinnert wiederum nicht nur an den König René, sondern an die Titel-Antihelden der frühesten Stücke von Hacks, nämlich die Könige Augias und Belsazar sowie den Dildapp. Von Gott zur Prophetenarbeit gezwungen, spielt Jona vor, was seiner Neigung wirklich entspricht, nämlich eigentlich nichts zu tun. Diese Position ist allerdings nicht durchzuhalten. Bereits im dritten Akt bespricht er sich nicht nur Eskar, sondern wird Teil einer von Semiramis fürs Volk inszenierten Zeremonie; entsprechend wechselt er hier kurz in den Vers (451). In der Folge mag er mogeln; wohlwissend, dass ein Ratschlag an die beobachteten Personen den »Vorschriften« widerspricht, deklariert er seinen Hinweis zum »Ratschlag der Vernunft« um. Im Schlussakt nimmt er derlei Rücksichten nicht mehr. Vielmehr greift er in die politischen Vorgänge ein und zwingt Semiramis, gegenüber Eskar und Asyrte ihre Intrigen einzugestehen. In dieser Passage spricht Jona dann ausführlich in Versen. Er ist, wie Semiramis zu diesem Zeitpunkt schon weiß, von Gottes Macht gedeckt und kann so auf der Königsebene eingreifen.

Jona – so könnte man sagen – vertritt über den Großteil der Handlung hinweg das Publikum. Im Gegensatz zu allen anderen Figuren überschaut er stets das ganze Geschehen. Seine Stellung ist durch einen Wechsel von Engagement und Distanz gekennzeichnet. Er teilt die vermutlichen Sympathien und Antipathien der Zuschauer, und er kommentiert das Geschehen mit einem Sarkasmus, zu dem die darin verknüpften Figuren nicht fähig sind.

Hier aber stellt sich eine weitere Frage. Sucht man eine Figur der Haupthandlung, die zu einer ähnlichen Haltung fähig ist, so stößt man auf Semiramis. Auch sie überschaut die Intrigen, denn schließlich gehen alle auf sie selbst zurück. Auch sie zeigt Distanz und verfügt sogar über das Register des Spielerischen: Von Jona streng befragt, was sie mit ihrem »erbarmungslosen Doppelspiel« bezweckt habe, antwortet sie: »Oh, nichts besonderes.« (479) Hacks stattet sie mit Einsichten aus, die er Honecker so wohl kaum zugetraut hat. Wenn auch Semiramis »Staatsschlaubergerei« betreibt – wenigstens über Schlauheit verfügt sie, und zwar mehr als Eskar oder Asyrte, die doch für eine bessere Zukunft Assurs stehen sollen. Entsprechend kann Semiramis auch zielgerichtet verschiedene Sprachregister einsetzen; zielgerichtet natürlich auf taktische Zwecke bezogen, nicht strategisch. All dies führt dazu, die Figur aufzuwerten. Sie zeigt einen Gestus der kühlen Überlegenheit, der dem Kern des Dramas sehr nahe ist.

André Müller schrieb denn auch Hacks am 15.12.1986 nach der ersten Lektüre von »Jona«: »Semiramis aber scheint 4 Akte lang von vollkommener Souveränität zu sein, und man identifiziert sich eben auch vier Akte lang mit dieser Souveränität […].« Dann erst komme der Schluss, und man müsse »plötzlich umdenken, ernüchtert einsehen: Sie war gar nicht souverän, sie trieb nur Unfug.« (365f.) Hacks antwortete, so ganz unvorbereitet komme die Entlarvung nicht, vor allem aber: »Wenn ich einen Nebbich (und als Hauptperson) schreibe, wird der Nebbich glänzen.« Im gleichen Absatz betont er, dass trotz der bitteren Zeiten die Bitterkeit bei ihm »bislang die Form nicht zerfressen hat.« (367)

Innerhalb der Dramenhandlung ist es dieses Haltungsbewusstsein, das Ninive rettet. Sie erinnern sich an den Dialog, in dem Jona der Königin versicherte, kein ungezogener Prophet zu sein. Freilich gilt dies nicht ohne Ausnahme. Will er Ninive zum Untergang verdammen, muss er seinen Fluch mit Gebärden wie »Raufen der Haare, Verdrehen der Augen, Armrecken gen Himmel« (474f.) begleiten. Als Jona schließlich die Fluchformel ausspricht, und zwar mit dem Einverständnis aller anderen Figuren, ziehen die bedrohlichen Wolken schnell wieder ab. Er hat es nämlich nicht über sich gebracht, »dermaßen den Anstand zu verletzen. […] Es widerstrebt einfach dem Stilgefühl. Es verstößt gegen den guten Ton. Ein Weltuntergang, was immer für ihn spricht, er bleibt ein geschmackloses Ereignis.« (485)

Dies ist mehr als ein Bonmot. Jona stellt auch nicht einfach nur ein Vorbild dafür dar, individuell Haltung zu bewahren. Die Haltung selbst ist von gesellschaftlicher Bedeutung, weil Grundlage dafür, weder dem Opportunismus einerseits noch blinder Wut andererseits anheimzufallen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein solches Maß an Welt- und Menschenkenntnis, wie Hacks sie seinem Jona mitgibt.

Eben habe ich eine Entsprechung zwischen der Haltung und der unzerfressenen Form, die Hacks für sich beansprucht, behauptet. Diese Form ist indessen befremdlicher als es auf den ersten Blick scheint. Das betrifft zum einen die Sprache. Der Wechsel zwischen Vers und Prosa hat eine lange Tradition und fand sich bereits auch bei Hacks, siehe »Prexaspes«. Doch neu ist bei ihm, in welchem Maße auch manche der Verse, besonders bei Semiramis, zur Prosa tendieren. Wenn man unbedingt will, kann man sogar das noch im Metrum skandieren; aber es würde gezwungen wirken. Hacks konnte elegantere Verse schreiben, also wollte er es offensichtlich nicht. In einer idealen Aufführung, stelle ich mir vor, würde man das Vorhandensein der sprachlichen Form wie auch ihren Zerfall hören und spüren. Man könnte von einer Demonstration sprechen, wie ein ästhetisches Erbe verlorengeht. Freilich wäre dazu ein ideales Publikum erfordert, und das reale Publikum heute ist um beinahe alle Erfahrungen mit dem Vers betrogen.

Die fünf Akte, die fünf Personen – dies scheint ein klassizistisches Extrem. Doch entspricht bereits Jonas Position, die des beobachtenden Kommentators, nicht dieser Tradition. Am Ende sprengt Hacks mit einer sechsten, stummen Rolle das Schema. »Auftritt Gotthelf, ein Tölpel«, lautet die Regieanweisung, und mit einer vorerst letzten Lüge ruft Semiramis Gotthelf statt Eskar zu ihrem Nachfolger aus. Semiramis demoliert den Staat, der Formverstoß demoliert die Form; und da überrascht es nicht mehr, wenn illusionszerstörend die Darstellerin der Asyrte als Epilog die Zuschauer anspricht.

Während schon 1986 fraglich gewesen sein dürfte, ob solche Feinheiten noch wahrgenommen worden wären, bleibt die Kombination aus hoher Liebes- und Staatsaktion einerseits, Witzen und Sarkasmen anderseits wirksam. Auch sie war bei Hacks nicht neu. Ihre Funktion bestimmt sich allerdings aus dem jeweiligen Zusammenhang. Hier ist der des Bestehens im Zerfall. Innerhalb der sichtbaren Handlung scheitert alles, was mit Leidenschaft und in hohem Ton verhandelt wird. Pragmatisch wirksam werden das Gewitzelte sowie Semiramis‘ zynische und zynisch formulierten Pläne. Emotional hingegen wirken dürften die beiden liebenden Figuren, Eskar und Asyrte. Diese Wirkung tritt nicht durch Identifikation ein. Wie Jona weiß das Publikum durchgängig mehr als diese beiden und erkennt, wie sie sich Schritt für Schritt ins Verderben manövrieren.

Wenn hier Mitleid entsteht, so ein bewusstes Mitleid, das die Ursachen und die Mechanismen des Elends kennt. Auf Bewusstsein baut zudem eine andere Wirkungsstrategie, die ich als letzte nennen möchte. Gerade habe ich von der »sichtbaren Handlung« gesprochen, was nahelegt, dass es auch eine unsichtbare gibt. Tatsächlich wird vieles, was für den Verlauf wichtig ist, nur berichtet. Da gibt es Klugheit: die Diplomatie Babels. Es gibt auch Leidenschaft: nämlich den Mut, mit dem Assurs Heer eine Schlacht gewinnt, die Semiramis eigentlich verlieren wollte. Was Bühnenwirksamkeit angeht, nimmt Hacks hier einen Nachteil in Kauf. Zu fragen ist also nach einem möglichen Zweck. Vielleicht geht man nicht fehl, wenn man diesen als Ermutigung identifiziert. Was sich im Vordergrund abspielt und jeder sehen kann, ist schauderhaft. Also hört man auf Anzeichen nach Vorgängen im Hintergrund, die Ansatzpunkte für Besseres bieten.

 

 

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