Tagung 2018

Mensch sein ist Ursach sein
Realismus auf dem Theater

magnushaus Elfte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft

Am Sonnabend, 10. November fand im Magnus-Haus, Berlin die elfte Tagung zu Werk und Leben von Peter Hacks statt.

 

Mit dem Tagungsthema suchte die Hacks-Gesellschaft Anschluss an eine Diskussion, die durch den Dramaturgen Bernd Stegemann im Jahre 2015 ausgelöst worden war. Es geht um den Realismus. Den Realismus auf dem Theater. Es geht aber nicht bloß um Abbildung und Widerspruch, Gattung und Zeit, Material und Form, Entwurf und Weltbegriff, Fiktion und Wirklichkeit, es geht auch um das Verhältnis von Drama und Theater.

Die Moderation des Vormittags übernahm Detlef Kannapin. Er gab mit drei Zitaten einen Rahmen, der den Realismus allgemein berührt. Zu Wort kam zunächst Hegel, demnach der Dramatiker die volle Einsicht sowohl in die gesellschaftlichen Verhältnisse als auch die gesellschaftlichen Entwürfe benötige. Er besorge also mehr als bloße Diagnose seiner Zeit. Im Drama indes prallen die notwendig subjektiven Positionen aufeinander, und des Dramatikers Pflicht sei, diese Einseitigkeiten zum Höheren hin aufzulösen. Das zweite Geleit entnahm Kannapin dem Werk von Georg Lukács, der den objektiven Widerspiegelungscharakter der Kunst nicht als Abwesenheit subjektiver Verzerrung verstehen will. Schließlich kam Hacks zu Wort mit einer Passage zum Verhältnis des dramatischen Helden und des gesellschaftlichen Fortschritts. Auch ihm geht es, wie Hegel und Lukács, um den notwendigen und angemessenen Platz des Subjektiven. Wenn Ändern nicht bloß Reformieren nach Maßgabe der Zeit sein soll, muss Handeln über sie hinausweisen.

Peter Schütze sprach über das Verhältnis des Dramatikers Hacks zum Theater unter den Zuständen eines Betriebs, der dramatische Maßgaben überhaupt anzuerkennen sich weigert. Das prononcierte Diktum des Dichters, er interessiere sich nicht für Theater, betreffe nicht die Aufführung, sondern den Prozess der Proben und die organisatorischen Abläufe. Gewiss habe Hacks das Primat des Dramas vor dem Theater gesetzt; zu Recht im Übrigen, denn Drama könne ohne Theater, es habe stets einen unvermittelten Zugang zur Welt, weil es Literatur ist. Aufführbarkeit sei indes eine genuine Eigenschaft der dramatischen Gattung, und ein entsprechend geschriebenes Stück besitzt diese Eigenschaft unabhängig davon, ob es aufgeführt wird oder nicht. Der Frage nachgehend, wie theatralisch nun Hacksens Stücke seien, stellte der Redner fest, dass es an Angeboten des Dichters nicht gemangelt habe und die Stücke mit der Zeit immer offener für theatralische Interpretationen wurden. Hacks habe sich in seinen Reflexionen theatralischen Fragen nicht verschlossen, was Kommentare zum Betrieb, Nachdenken über Bühnenbild und Schauspieler, nicht zuletzt elaborierte Analysen für Theaterleute wie Esche und Solter beweisen. Gegen das Regietheater wurde der Schauspieler für Hacks zum Verbündeten. In Esche fand Schütze ein anschauliches Subjekt für den Niedergang des Theaters seit den siebziger Jahren: den vom Regietheater ins Soloprogramm gezwungenen großen Darsteller.
In der Diskussion kam Hacksens Ablehnung der abstrakten Kunst zur Sprache, die nicht bloß eine Frage des persönlichen Geschmacks war. Hacks habe darauf bestanden, dass Kunst sich nicht in ihrer Erkenntnisfunktion erschöpfe und Schönheit immer anschauliche Schönheit sei.

In seinem Vortrag über den Realismus der DDR-Literatur aus den sechziger Jahren erklärte Thomas Wieck denselben für nicht vorhanden und insonders Hacksens Auffassung der sozialistischen Gesellschaft für irrelevant. Der habe sein Werk »ins politische Niemandsland und die Bedeutungslosigkeit« katapultiert; seine Dramen seien »immer realitätsferner und fremder« geworden. Wieck stellte die Frage: »Warum spielt heute alle Welt noch Brecht, und wie kam es dazu, dass Hacks im theatralischen Abseits strandete?« Bei der Beantwortung dieser Frage ließ er die Geschichte der Hacks-Boykotte und -Verbote ebenso beiseite wie die politische Spaltung des Publikums in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR sowie die naheliegende Antwort, dass der unter kapitalistischen Verhältnissen arbeitende Brecht heute, da wieder solche herrschen, naturgemäß mehr zu interessieren weiß als Hacks, der sich mit Fragen des Sozialismus beschäftigte. Hacksens Abwendung vom Theaterbetrieb der DDR zu Beginn der siebziger Jahre wurde von ihm als Abkehr von der Wirklichkeit überhaupt gedeutet. Die Realismusfrage verknüpfte Wieck ohne weitere Vermittlung mit der Erfolgsfrage: Bleibender Erfolg eines Stücks hänge davon ab, wie treffend es die Fragen seiner Zeit beantworte. Zum anderen setzte Wieck eine stark zugeschnittene Definition von Realismus. Nicht das Verhältnis zur Wirklichkeit überhaupt, zur Vielzahl der Probleme und Bewegungsformen des Sozialismus, entscheide über den realistischen Charakter eines Werks dieser Epoche, sondern allein die Behandlung des Problems von Autorität und Selbstverwaltung der Arbeiterklasse vor dem Hintergrund der faschistischen Vergangenheit.
In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass der Vortrag die politischen Gründe für die Absetzung von Hacks-Stücken außer Acht lasse. Ein anderer Kommentar verwies auf den selektiven Sozialismusbegriff Wiecks. Dieser entgegnete hierauf, dass man nicht wissen könne, welches Sozialismuskonzept sich als richtig erweisen werde. Die Frage, warum er dann einen solch unsicheren Begriff zur Grundlage nehme, den Realismus der sechziger Jahre zu verneinen, beantwortete er nicht.

Ihren kursorischen Vortrag über den Zusammenhang der ästhetischen Vorstellungen von Hacks und Lukács begann Kristin Bönicke, sie wolle sich beschränken auf das Spätwerk, insbesondere die »Eigenart des Ästhetischen«. Hacks und Lukács habe der Kampf gegen die Liquidation des Werkbegriffs verbunden. Ein Werk allerdings liefere seine Deutung selbst mit und bedürfe nicht notwendig der auxiliaren Erläuterung durch seinen Urheber. Kunst, die sich ans Publikum richtet und nicht bloß der privaten Erbauung des Künstlers dient, müsse welthaltig sein. Sie sollte aber auswählen, das Typische im Besonderen hervortreten lassen, wodurch Realismus erreicht wird ohne die Gefahr der Langeweile. Hierbei verknüpfte die Rednerin die Eigenschaft der Kunst, gerade durch das Erfassen des Vorhandenen über das Vorhandene hinauszuweisen, mit der Politik, denn »die Zukunft, das ist der Kommunismus«. Das bedeute nach Lukács jedoch nicht, dass der »subjektive Faktor« auszuschließen sei. Da es in der handlungstragenden Kunst um Möglichkeiten des Menschen zum Handeln geht, erkläre sich, warum Hacks seinerseits, obgleich Kommunist, das Königsdrama bevorzugte. Auch in der Frage der Form habe zwischen Lukács und Hacks Einigkeit geherrscht; Form setze dem ausladenden Anspruch des Realismus, Wirklichkeit zu erfassen, eine Grenze, und allein als Werk, als abgeschlossene Form also, könne Kunst wirken.
Auf Nachfrage aus dem Publikum erläuterte Bönicke, dass ihr Schwerpunkt bei den Gemeinsamkeiten der ästhetischen Vorstellungen von Hacks und Lukács gelegen habe. Eine Differenz zwischen beiden liege z. B. darin, dass Hacks das Schöne stärker gewichte und ihm eher eine autonome Stellung innerhalb des Kunstzusammenhangs zubillige, als Lukács das tat.

Den Nachmittag der Tagung, nunmehr moderiert von Constanze Kraft, eröffnete Felix Kupfernagel mit Überlegungen zur Analogie der Stücke »Moritz Tassow« und »Torquato Tasso«. Für Hacks sei »Moritz Tassow« ein wichtiges Stück geblieben, weil es die Frage nach dem Künstler in der Gesellschaft berühre. Es verwundere, dass die Beziehung der beiden Stücke, im Angesicht der klar erkennbaren Anspielung durch den Namen und der thematischen Schnittmengen, noch nie einer gründlicheren Untersuchung unterworfen wurde. Für Kupfernagel liegt das nähere Verhältnis der Stücke vor allem in der Ähnlichkeit ihrer beiden Titelfiguren. Tassos »Erlaubt ist, was gefällt« werde nachgerade zur Folie für Tassows Verachtung jedwedem Menschen gegenüber, der »äußre Lenkung duldet, fremden Auftrag / ​Annimmt und macht, was er nicht will, und nicht / ​Macht, was er will«. Dabei verharre Tasso in elegischer Wehmut, während Tassow aus seinem Voluntarismus eine nach vorn gerichtete utopische Idylle forme. Tassow sei nicht rundweg als Narr zu begreifen, da seine Politik leninistische Inhalte befördere, nur eben zur falschen Zeit. Dort greife Mattukats Wort, dass man recht immer nur hier und jetzt haben könne. Der Anarchismus Tassows, so lässt sich zusammenfassen, liegt nicht im Inhalt, sondern in der Haltung.
Aus dem Publikum gab es Anmerkungen und Ergänzungen zur Feinstruktur und zu den Grenzen der Analogie beider Stücke, zur Differenz von Transformation und Übertragung, zu den Quellen des »Tassow« im Drama des Biedermeier, zur Rückläufigkeit der Utopie im Stück.

Jens Mehrle widmete sich der Frage nach dem Verhältnis von Drama und Theater bei Hacks mit besonderer Rücksicht auf das durch die »Berlinische Dramaturgie« überlieferte Material. Zur Eröffnung wies er auf den immensen Erfolg der Hacksschen Dramen auf deutschen Bühnen während der sechziger und siebziger Jahre hin. Der zunehmende Unwille des Dichters am Theater setzte am Höhepunkt seiner Erfolge dort ein. In der Akademie, urteilte Mehrle, zeichneten sich für Hacks zwei große Differenzen ab. Offenkundig im Gefolge des Jahres 1968 schwand bei einer Gruppe von Schriftstellern der »Grundkonsens einer sozialistischen Perspektive, der sie mit der DDR verbunden hatte«; das betreffe die Strömung, die Hacks später als »Romantik« bezeichnete. Die andere Differenz betreffe die Entwicklung des Regietheaters als von der Dramatik unabhängiges Treiben im theatralischen Betrieb. Mehrle erinnerte daran, dass die Divergenz von Hacks und Theater nicht vom Dichter ausging, sondern bereits im Konzept des Regietheaters angelegt ist. Auf ein Theater, das den dramatischen Dichter für unzuständig erklärte, habe der dramatische Dichter Hacks folgerichtig mit Rückzug von diesem Theater reagiert. Anschaulich werde die Akzentverschiebung durch das Regietheater auch daran, dass die politischen Skandale der sechziger Jahre noch die Stücke betroffen hatten, während die Skandale der Siebziger durch die Inszenierungen ausgelöst wurden. Das Drama habe Hacks aufgefasst als poetische Gattung mit Orientierung zur Spielbarkeit. Nichts sei theatralischer als eben das Dramatische, weil nichts auf der Bühne spannender wirke als eine gut erzählte Handlung. Die Eigenschaft der Spielbarkeit unterscheide sich dennoch von der des Dramatischen. Theatralische Technik (Drehbühne, Kulisse usw.) habe Hacks nicht abgelehnt, allerdings die Auffassung vertreten: je weniger Technik, desto besser. Im letzten Teil seines Vortrags umriss Mehrle eine Konzeption realistischen Theaters im Sozialismus, die sich aus der Zusammenschau der Hacksschen Akademie-Äußerungen gewinnen lässt. Bezüglich der gegenwärtigen Debatte zum Realismus auf dem Theater kritisierte der Redner, dass das Thema von Theaterpraktikern und -gelehrten im Wesentlichen ohne einen Begriff von Drama geführt werde.
In der Diskussion benannte Mehrle die Ablehnung der revolutionären Romantik als eine Grundtendenz des Sozialistischen Realismus; diese Romantik sei eine Schwachstelle der marxistischen Ästhetik. Auch auf das Regietheater kam er noch einmal zurück, indem er die Formel von der »Befreiung des Schauspielers« als im Kern bereits romantisch sowie als Irreführung deklarierte.

Nach Mirjam Meuser bezeigt die Debatte um Stegemanns »Lob des Realismus« eine Spaltung in der ästhetischen Diskussion, die auf das Zerbrechen der postmodernen Gewissheit vom Ende der Geschichte zurückgehe. Heute formiere sich ein Lager des Realismus gegen eines der verbleibenden Postmoderne. Alle postmodernen Varianten werden, wie Stegemann betone, unbewusst systemapologetisch und erzeugen einen postmodernen Universalismus, dem alles, was sich dem Bewusstsein eindrückt (ob wahrgenommen oder eingebildet), als wirklich gilt, wonach Darstellung von etwas und Darstellung als ihr eigener Inhalt ununterscheidbar werden. Dieser ästhetische Relativismus habe sich aber selbst zur Normpoetik entwickelt. Peter Hacks, führt Meuser fort, stellte in der Diskussion zum Sozialistischen Realismus ganz ähnliche Fragen und wendete sich gegen beide Richtungen, die Enge des Dogmatismus und die Beliebigkeit des postmodernen Relativismus. Für Hacks und Stegemann gelte gleichermaßen, dass zu realistischer Kunst Interesse an Welt, dialektisches Denken und politisches Bewusstsein gehören. Die Funktion der Kunst bestehe in Erkenntnis. Postdramatische Strebungen, die Drama und Theater entkoppeln, haben sich, ausgehend von Hans-Thies Lehmann, nachhaltig durchgesetzt. Die lange Wirkung der Argumentation Lehmanns zeige sich etwa beim jungen Autor Wolfram Lotz, der sich explizit für den Realismus ausspricht. Nach ihm werde Realismus der Motor des Schreibens im Sinne eines »unbedingten Interesses für die Wirklichkeit«. Realismus sei für Lotz dort gegeben, wo der Schreibende seinen Text als nicht ausreichend anerkennt. Hierin machte Meuser eine Gemeinsamkeit von Hacks, Lotz und Stegemann fest. Die große Differenz liege aber genau am Dramatischen, insofern Lotz konträr zu Hacks das dramatische Genre als ungenügend versteht, Wirklichkeit zu erfassen. Die Diskussion eröffnete mit mehreren Beiträgen zu Widersprüchen bei Lotz, insbesondere seiner halbherzigen Distanzierung vom postdramatischen Theater, dem er sich gleichwohl noch unterwerfe, um weiter gespielt zu werden. Auch seine Unlust, sich im ästhetischen Zusammenhang politisch zu positionieren, wurde kritisiert.

 

Das komplette Tagungsprogramm als Flyer zum Download.

Die Referate der Tagung werden im Jahrbuch 2019 der Peter-Hacks-Gesellschaft veröffentlicht.


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